Offener Brief der GSV zum Deutsch-Abitur

An:
Die Fachkommission für das Abitur im Fach Deutsch
Die Bildungsbehörde Bremen
Das Landesinstitut für Schule Bremen
Die Senatorin für Kinder und Bildung Claudia Bogedan
Die Frauenbeauftrage für das Land Bremen und den Bereich Schule

Sehr geehrte Empfänger*innen,

Vorab möchten wir erwähnen, dass dieser Brief aus einer weißen Perspektive verfasst wurde und somit keine von Rassismus betroffene Perspektive wiedergibt.

In diesem Jahr waren, wie Sie wissen, die beiden Schwerpunktthemen des Deutsch Abiturs „Zeit für Helden“ und „Leben in digitalen Welten“. Wir halten die Auswahl der zu bearbeitenden Inhalte für sehr problematisch und wollen Ihnen im Folgenden unsere Kritikpunkte aufzeigen.

Der Titel „Zeit für Helden“ beschreibt das Thema sehr treffend, denn die Auswahl der zu bearbeitenden Figuren und Bücher gibt nur Zeit für „Helden“ und keine Zeit für „Held*innen“.

In den letzten drei Jahren wurden die Figuren Achilleus und Hektor, Michael Kohlhaas, Jakob Heym und Batman/Superman auf Heldentum untersucht. Mit Jakob Heym, der als Jude im NS-Regime verfolgt wird, gibt es in einer der Geschichten einen jüdischen Helden. Davon abgesehen wurden ausschließlich weiße cis¹ männliche Protagonisten auf das Potential zum „Helden“ untersucht. 

Keine Schwarzen Held*innen, keine Held*innen of Color, indigene Held*innen oder nicht-cismännliche Held*innen.

Deshalb ist unsere Frage an Sie: welches Bild wollen Sie durch die Auswahl der Helden vermitteln? Welchen Mehrwert und Lerneffekt sollen die Schüler*innen aus dieser Auswahl an „Helden“ ziehen? Dass fast nur weiße heterosexuelle cis Männer „Helden“ sein können?

Schule ist ein Ort, an dem Jugendliche etwas lernen sollten, aber was hat das für ein Lerneffekt, wenn wir von klein auf lernen, dass nur weiße cis Männer stark sein können, Machtpositionen beziehen und die „Helden“ unserer Gesellschaft darstellen.
Diese Sichtweise bekommen wir schon genug in unserer patriarchalen weißen Mehrheitsgesellschaft zu spüren.

Aber wäre es nicht schön, wenn Schule diese nicht reproduziert und Jugendlichen aufweisen würde, dass es auch anders sein kann und Menschen, die anerkannt und bewundert werden, auch queere Menschen und Black, Indigenous and People of Color (BIPOC) sein können?
Schule sollte Frauen, Lesben, Inter(sexuell), Nicht-binär, Trans*gender, A-gender* ( FLINTA*) und BIPOC empowern (bestärken), indem sie aufzeigt, dass das Bild einer*eines Held*in nicht nur weiß und cis männlich sein kann.

Unserer Meinung nach, ist das Bild des „Helden“ als ausschließlich „weißen Mann“ sehr problematisch und spiegelt den tief sitzenden Rassismus, Sexismus und Eurozentrismus unserer Gesellschaft wider.

Auch hier im Deutschunterricht wird der Eurozentrismus deutlich, indem sich die Auswahl der Autor*innen und Protagonist*innen ausschließlich auf Menschen des globalen Nordens beschränkt und somit Menschen des globalen Südens, ihre Expertise und ihre Fähigkeit, eine Gesellschaft progressiv zu verändern, abspricht.

Der Landesaktionsplan gegen Homo-, Trans- und Interphobie für das Land Bremen zeigt im Handlungsfeld Schule auf, dass durch gezielte Maßnahmen im Unterricht der Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt verbessert und gefördert werden kann, durch jedoch eine nicht vorhandene Repräsentation in den Lerninhalten, wird dieser Umgang vielmehr verschlechtert.

Schule hat eine große pädagogische Verantwortung und Vorbildfunktion, es ist dramatisch, wenn sie vermittelt, dass mehr als die Hälfte der Schüler*innen nicht das Potential haben, ein*e Held*in zu sein.

Den meisten Jugendlichen fällt es gar nicht auf, dass wir uns nur mit Männern beschäftigen, weil wir es so gewohnt sind. Wir sind es gewohnt, die Stimmen von weißen cis Männern zu hören, denn diese bestimmen und dominieren den gesellschaftlichen Diskurs. Doch den Menschen, die zu diesen marginalisierten Gruppen gehören, fällt es sehr wohl auf.

Frauen* wird immer vermittelt, schwächer zu sein und weniger zu können und BIPOC bekommen tagtäglich ihr Wissen und ihre Kompetenz abgesprochen, und es ist unverantwortlich von einer pädagogischen Einrichtung, dieses Bild auch noch zu reproduzieren und zu befeuern.

2018 erhält die Oberschule an der Schaumburger Straße, als 40. Schule in Bremen, den Titel „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ und wird dafür von der Bildungssenatorin Claudia Bogedan hoch gelobt. Der Titel alleine reicht jedoch bei weitem nicht aus, er darf nicht nur neben dem Schultor auf einer Plakette stehen, sondern muss sich auch in den Lehrinhalten widerspiegeln. Projekte im Rahmen von „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ zur Sensibilisierung von Rassismus sind ohne Frage wichtig, jedoch darf sich dies nicht auf besondere Anlässe beschränken, sondern muss im Alltag gelebt und ständig reflektiert werden.

In der gesamten Oberstufenzeit haben wir nur ein Buch einer Autorin gelesen: In „Corpus Delicti“ von Juli Zeh ist die Protagonistin weiblich, jedoch auch weiß und heterosexuell. Die andere zu behandelnde Pflichtlektüre zum Thema „Leben in digitalen Welten“, „Hikikomori“ von Kevin Kuhn, ist jedoch sehr problematisch. Nicht nur, weil der Protagonist wieder einmal ein weißer heterosexueller cis Junge ist, sondern vor allem, weil das Buch sexualisierte Gewalt verharmlost.

Es ist sehr wichtig, im Unterricht über Themen wie „Sexualisierte Gewalt“ zu reden, jedoch braucht es dafür kein Buch, welches diese unkritisch darstellt und somit noch mehr problematisiert. Es muss gewährleistet sein, dass die Lehrer*innen die Kompetenz besitzen, mit diesem Thema sensibel umzugehen und Schüler*innen die Chance haben, sich diesem Thema zu entziehen.

Dies ist bei der Bearbeitung von „Hikikomori“ nicht gegeben, es gibt keine Vorgabe für Lehrer*innen, wie sie mit dem Thema umgehen sollen.
Hierbei wäre das mindeste, eine professionelle Gewaltberatungsstelle hinzuzuziehen, denn in einer durchschnittlichen Klasse sind etwa die Hälfte der Schüler*innen weiblich sozialisierte Menschen und von denen erlebt jede siebte im Laufe ihres Lebens strafrechtlich relevante sexualisierte Gewalt. 60% aller Frauen in Deutschland haben sexuelle Belästigung erlebt. (https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/gewalt-gegen-frauen-merkmale-und-tatsachen.html – 09.07.2020). Grundsätzlich kann sexualisierte Gewalt alle Geschlechter treffen, aber die Häufigkeit bei weiblich sozialisierten Kindern und Jugendlichen ist nachgewiesen höher. Vor diesem Hintergrund ist es unverantwortlich ohne jegliche Triggerwarnung und auch überhaupt diese Lektüre auf den Lehrplan zu setzen.

Aus mehreren persönlichen Gesprächen ging hervor, dass weiblich sozialisierte Menschen nach diesen Szenen erst einmal das Buch zur Seite legen mussten und länger nicht weiterlesen konnten.

Ein Beispiel dieser Szenen im Buch, befindet sich auf den Seiten 55 bis 59, dort wird eine Vergewaltigung beschrieben. Die Szenen wurden im weiteren Buch nicht thematisiert oder in irgendeiner Weise aufgearbeitet.

Diese unkritische Darstellung ist sehr problematisch und gefährlich, sexualisierte Gewalt wird normalisiert und als gesellschaftlich anerkannt dargestellt, ganz nach dem Motto „So etwas passiert halt auf einer Party unter Jugendlichen“.

Die Schule als Institution sollte nicht nur einem Bildungsauftrag folgen, sondern ebenfalls als Schutz- und Rückzugsort fungieren.
2018 wurde die Bremer Bildungsbehörde Teil der bundesweiten Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“, bei der Schulen Konzepte zum Schutz vor sexualisierter Gewalt entwickeln, welche die Schule als Schutzraum etablieren. Aus unserer Sicht ist dieses Ziel mit einer Pflichtlektüre wie “Hikikomori” unvereinbar, bei einem dermaßen verantwortungslosen Lehrplan verliert dieser löbliche Ansatz jegliche Authentizität.

Wie unersetzbar ist „Hikikomori“ für die Thematik „Leben in digitalen Welten“, dass die physische und psychische Verfassung der Schüler*innen aufs Spiel gesetzt wird?

Wir bitten Sie dringendst, Ihren Lehrplan zu überarbeiten.

Deshalb fordern wir, dass:
– die Lektüre „Hikikomori“ vom Lehrplan genommen wird, da in den nächsten beiden Schuljahren das Thema „Leben in digitalen Welten“ ebenfalls behandelt wird. Falls dies im nächsten Abitur 2021 nicht mehr möglich ist, sollte im Buch „Hikikomori“ eine Triggerwarnung für die besagten Stellen eingeführt werden bzw. dass diese Stellen nicht verpflichtend gelesen werden müssen und eine professionelle Gewaltberatungsstelle hinzugezogen wird.
– spätestens im Abiturjahrgang 2022 die Lektüre „Hikikomori“ vom Lehrplan genommen wird.
– zukünftig nicht nur weiße cis Männer als Hauptfiguren und Autoren den Lehrplan dominieren, sondern bewusst Lektüren ausgewählt werden, die von FLINTA* und BIPOC verfasst wurden.
– alle Lehrer*innen in Bremen durch Fortbildungen für strukturelle und alltags Diskriminierung sensibilisiert werden.
– Sie ihre eigenes Personal in der Hinsicht auf Diversität und die damit einhergehende Themenwahl reflektieren und verändern, dies ist auch eine Aufgabe für uns als GSV Bremen.
– Sie sich ihrer pädagogischen und gesellschaftlichen Verantwortung bewusst werden und aktiv Rassismus, Sexismus, sowie jegliche Form von struktureller Diskriminierung dekonstruieren und bekämpfen!

Der Deutschunterricht ist bei weitem nicht das einzige Fach, welches nur weiße cis männliche Menschen repräsentiert.
Deshalb fordern wir ebenfalls, dass Sie in allen Fächern die Auswahl der Texte, Lektüren und Themen auf strukturelle Diskriminierung und Unterrepräsentation überarbeiten.

Wir möchten abschließend noch einmal betonen, dass wir nicht die Ersten sind, die diese Kritik äußern und die Abiturkommission sich daher der Problematik ihres Handelns durchaus bewusst ist.

Wir bitten um eine zeitnahe Rückmeldung und sind bereit für weitere Auseinandersetzungen mit diesen Themen, gerne in Form eines persönlichen Gesprächs mit Ihnen. Vor allem fordern wir, dass Sie nicht nur mit uns ins Gespräch kommen, sondern BIPOC, FLINTA* und Gewaltberatungsstellen zuhören.

Dieser Brief ist lediglich ein Anstoß für weiter Auseinandersetzungen und beschreibt die genannten Problematiken nur in Ansätzen.

Mit freundlichen Grüßen,
der Vorstand der GesamtSchüler*innenVertretung Bremen

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¹Geschlechtsidentität stimmt mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht überein